Zwangsprostitution: Jeder hat die Verantwortung, nicht wegzuschauen

Autorin: Gaby Wentland

Eine gerade einmal sechzehnjährige Bulgarin wurde in einem Dorf in ihrem Heimatland von ihrem Freund schwanger und bekam ein Mädchen. Der Freund machte den Vorschlag für sechs Monate nach Deutschland zu fahren, um viel Geld zu verdienen. Ihre Tochter sollte solange bei der Großmutter in Bulgarien bleiben. Dann würden sie wiederkommen und genügend Geld für ihr Leben haben.

Statt Geld wartete in Deutschland das Grauen

Doch der Freund verkaufte seine Freundin nach Ankunft in Deutschland an einen Bordell-Besitzer in St. Georg in Hamburg. Dort musste sie vier Jahre lang in einem Zimmer hausen und täglich 10–15 Männer bedienen. Schrecklich einsam und verzweifelt floh sie eines Tages aus ihrer Unterkunft, doch der Zuhälter fand sie und schlug sie. Glücklicherweise halfen ihr daraufhin Passanten und brachten sie zur Polizei in St. Georg, die wiederum MISSION FREEDOM e. V. anriefen. So kam sie schließlich zu uns.

Obwohl Sklaverei weltweit verboten ist, gibt es heute mehr Sklaven als jemals zuvor. Schätzungen zufolge werden weltweit 46,8 Millionen Menschen zur Arbeit gezwungen. Etwa 4,5 Millionen Menschen leiden nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation unter sexueller Ausbeutung – auch bei uns in Deutschland. Und das, obwohl unserem Grundgesetz zufolge die Würde des Menschen unantastbar ist und die Freiheit des Menschen gewährleistet werden soll.

Was, wenn es meine Tochter wäre …

Nachdem ich mich anderthalb Jahre mit dem Thema Menschenhandel beschäftigt hatte, wurde mir klar: Jetzt kann ich nie mehr dieselbe sein. Dafür war ich einfach zu gut informiert. Ich habe selbst vier Kinder, darunter zwei bildschöne Töchter. Ich stellte mir nur einen Moment lang vor, was ich tun würde, wenn einer meiner Töchter so etwas passieren würde. Daher gründete ich 2011 zusammen mit meinem Team den Verein MISSION FREEDOM. Um Frauen aus dem Menschenhandel sicher aufnehmen zu können, mieteten wir daraufhin ein Haus.

Unser Ziel ist es, dass die Frauen ihr Leben selbstbestimmt und unabhängig in die Hand nehmen – sei es bei ganz alltäglichen Dingen wie Kochen und Putzen, dem Erlernen der deutschen Sprache oder Behördengängen. Im „Mission Freedom Homeerhalten Frauen mit ihren Kindern individuelle Beratung und Begleitung, Die Frauen sollen die Chance haben herauszufinden, wie sie mit ihren Fähigkeiten außerhalb des Rotlicht-Milieus Geld verdienen können.

Tränen und Hoffnung – Der lange Weg zum Selbstwert

Unsere wichtigste Aufgabe ist es jedoch, den Selbstwert der Frauen und ihre Hoffnung auf ein gutes Leben wiederherzustellen. Wenn sie von uns hören, dass sie wunderbar gemacht sind und ihr Leben einen höheren Sinn hat, fangen sie oft an zu weinen, weil sie das gar nicht glauben können. Die Frauen möchten arbeiten und Geld verdienen.

Es sind junge, schwer traumatisierte Frauen und deren Kinder, die wir aus der Zwangsprostitution und dem Menschenhandel befreien. Auf dem langen und beschwerlichen Weg in die Freiheit und Selbstständigkeit können wir das an ihnen begangene Unrecht nicht wieder gut machen. Aber wir ermöglichen ihnen einen Neuanfang und geben ihnen eine Perspektive.

Das Unrecht an so vielen Frauen aufdecken

Wir kämpfen für eine Generation junger Frauen, denen die Chance genommen wird, ein freies Leben zu führen. Zwangsprostitution ist immer Versklavung. Die Spirale von Gewalt, Bedrohung und Abhängigkeit muss endlich aufhören! Deshalb ist unser weiteres erklärtes Ziel mitzuhelfen, dass Menschenhandel beendet wird und die Täter härter bestraft werden. Über 87 Frauen haben durch unseren Verein in den letzten sechs Jahren ihre Freiheit wiedererlangt, eine Arbeitsstelle bekommen oder wieder zu ihrer Familie gefunden.

Unsere junge Bulgarin machte sich auf die Suche nach ihrem Kind

Unsere junge Frau aus Bulgarien machte sich nach drei Monaten mit unserer Hilfe auf den Weg in ihr Heimatland, um ihre Tochter wiederzufinden. Seit vier Jahren hatte sie sie nicht mehr gesehen. Sie wusste gar nicht, ob und wo ihr Kind lebte. Ob es vielleicht schon verkauft wurde. Und dann die freudige Nachricht: „Ich bin jetzt bei meiner Tochter, sie lebt und es geht ihr gut.“ Das war ein ganz besonderer Moment – auch für mich.

Autorin: Gaby Wentland, 1. Vorsitzende des MISSION FREEDOM e.V.

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