Teil 2: Die neue Sehnsucht nach dem Wir

Das soziale Miteinander in unserer Gesellschaft hat stark gelitten. Nicht zuletzt, weil die Familie nicht mehr ihre tragende Stütze ist, in der Gemeinschaft trainiert werden kann. Ganz klar, Familien müssen wieder gestärkt werden. Gleichzeitig suchen unsere Wirtschaft und Gesellschaft nach anderen Formen von Sozialgemeinschaften. Die zentrale Frage dabei: Wie können wir kooperieren, ohne dass der Einzelne sich aufgeben muss?

Wie entsteht Zugehörigkeit?

Führungskräfte haben die Fähigkeit, Menschen in einer Gemeinschaft zusammenzubringen. Es ist besonders die Begabung eines „Hirten“, die sie leicht Gemeinschaft formen lässt, in der Menschen sich zugehörig fühlen. Hirtenschaft sorgt sozusagen für den Rahmen. Wo sie fehlt, fehlt auch das gute Gefühl der Zugehörigkeit.

In Hesekiel 34 geht Gott durch den Propheten Hesekiel mit den damaligen Führungskräften hart ins Gericht, weil sie ihre Positionen zum eigenen Vorteil nutzen, anstatt „Hirten“ zu sein. Weil sie sich weder um die sozial Schwachen und um den inneren Frieden kümmern, noch Gemeinschaft stiften, in der aufeinander geachtet wird. Gott prangert eine ganze Liste von schlechter Führungsarbeit an, darunter maßlosen Egoismus und die Ausbeutung der Menschen. Adressiert an die Stadträte, Ältesten, die Familien-Oberhäupter und die Priester.

„Ich will euch einen Hirten senden nach meinem Herzen.“

Darauf kündigt Gott seine Gegenmaßnahme an, ein Vorbild, an dem die Menschen sich orientieren können. Jesus bestätigt dies in Johannes 10, indem er von sich als dem guten Hirten spricht, der sein Leben hingibt für seine Herde. Wenn wir die Führungsarbeit von Jesus studieren, erkennen wir darin Gottes Herzschlag. So stellt sich Gott eigentlich Vergemeinschaftung vor.

Für uns als Gemeinde Jesu und Stadtreformer definiert sich jede gute Zugehörigkeit  durch eine gute Hirtenschaft. Väter, Mütter, (Familien-)Unternehmer, Politiker, Pastoren usw. haben die Fähigkeit, Gemeinschaft zu stiften. Wo sind die Leute, die bei Jesus selbst Hirtenschaft erlebt haben, durch ihn zur Ruhe gekommen sind und neue Kraft gefunden haben? Die eine unvergängliche Heimat gefunden haben und das Empfangene wiederum an unsere Gesellschaft weitergeben möchten? Das kann mit ganz einfachen Mitteln und ganz praktisch beginnen:

Einen Tisch auf Straße stellen, einen Bierkasten dazu und die Nachbarn einladen

Ich denke an ein Paar aus Düsseldorf, in deren Umfeld viele Menschen einsam und isoliert lebten. In der warmen Jahreszeit organisierten sie einfach ein Straßenfest und luden ihre Nachbarn ein: „Jeder bringt etwas mit. Wir kümmern uns um die Getränke und den Grill. Lasst uns einfach zusammen Essen und Feiern!“  Fast alle sind gekommen, ca. 40 Leute aus der Nachbarschaft!

Erstaunlich, wie viel sich seitdem verändert hat. Die Nachbarn interessieren sich mehr füreinander, tauschen und helfen sich aus. Wertvolle Beziehungen sind entstanden, weil ein Ehepaar Hirtenschaft gelebt hat und einen Raum geschaffen hat für eine Nachbarschaftsgemeinschaft und Zugehörigkeit.

Interesse an Menschen ist die halbe Miete

Dadurch hat sich die Lebensqualität und das Miteinander erheblich verbessert. Seit ich in Gemeinden davon erzähle, macht das Schule. Viele Menschen haben inzwischen ein solches Netzwerk ins Leben gerufen. Es ist übertragbar auf viele Bereiche: Wo sind die Hirten in Unternehmen, durch die über die Arbeit hinaus Zugehörigkeit entsteht? In Abteilungen, in Betrieben insgesamt. Startschuss könnte sein, seine Kollegen einzuladen. Auch in Kirchengemeinden braucht es Hirten, damit Menschen nicht nur wie Kunden oder Gäste bestimmte Dienstleistungen genießen, sondern Teil der Glaubensgemeinschaft werden.

Trendforscher unterscheiden Effizienz-Wirs und Weltverbesserungs-Wirs

Die Effizienz-Wirs bilden beispielsweise eine Fahrgemeinschaft, wollen persönlich aber nichts mit den anderen zu tun haben. Die Gemeinschaft ist ausschließlich zweckorientiert. Die Weltverbesserungs-Wirs dagegen haben einen hohen Grad an Vergemeinschaftung. Hier muss ich mich stark investieren, viel von mir einbringen.

Der Lohn dafür ist die intensivste Form von Zugehörigkeit, die sich beispielsweise bei Ordensgemeinschaften zeigt, aber auch beim Mehrgenerationenwohnen wie auch bei Landwirten. Jeder bringt sich im Höchstmaß persönlich ein, wodurch das maximale Wir-Gefühl entsteht. Der Schweiß schweißt sozusagen zusammen. Wir gehören zusammen mit all den Schmerzen und Vorteilen, die diese Lebensform mit sich bringt.

Ohne Aufgabe von persönlichen Freiheiten ist identitätsstiftende Zugehörigkeit nicht möglich

Ich spreche hier nicht vom Miles&More-Club. Sondern von Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die den Schwachen stärkt und in die der Starke sich einbringt. Das funktioniert nicht ohne ein gewisses Maß an eigener Investition. Wer Geld, Zeit, persönliche Gaben und Fähigkeiten teilt, wird Teil der Gemeinschaft. Je mehr mein persönliches Engagement zunimmt, desto stärker entwickelt sich mein persönliches Wir-Gefühl als Teilhaber, Anteilseigner dieser Familie oder ganzen Gemeinschaft. Wie passt das in unsere Zeit?

Das Ideal liegt für mich im kooperativen Individualismus

Er ist nicht neu, schon Epheser 4 greift diesen Leibgedanken auf. Nach der biblischen Vorgabe kann Gemeinschaft gelingen, ohne dass man sich darin auflöst. Sie bildet praktisch die Schnittstelle zwischen der östlichen Hemisphäre (alles ordnet sich der Gemeinschaft unter) und der westlichen Hemisphäre (der Individualismus löst die Gemeinschaft auf).

Hier bietet uns die Schrift ein Bild an: Menschen sind wie Glieder eines Leibes, die verbunden sein müssen. Es geht um verbindliche und verbindende Kooperation. Wir müssen uns aufeinander einlassen und uns einbringen. Aber ich muss auch wissen, wer ich bin und was ich kann. Dieses Wissen um meine Identität ist der positive Aspekt am Individualismus.

Die Kunst des Interdisziplinären, um ein größeres Ganzes zu schaffen

Und doch kommt meine Besonderheit erst dann zur Geltung, wenn ich sie in eine Gemeinschaft einbringe und das, was mir fehlt, von der Gemeinschaft empfange. Die Ehe ist die kleinste Form davon, das Prinzip gilt aber gleichermaßen für Geschäftspartnerschaften und Gemeinschaften jeglicher Art.

Es ist genau genommen die Lösung für unsere Wirtschaft und führt zu interdisziplinären Kooperationen weit über das eigene Fachgebiet hinaus. Die besonderen Anforderungen, die der Wandel unserer Zeit auf vielen Ebenen bringt, erfordern Kooperationen von Individuen, die wertschätzend miteinander umgehen. Dadurch schaffen sie etwas Größeres, ein großes Ganzes, das der Einzelne allein nicht fertigbringen würde.

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Comments
  • Susanne Farkhar

    Sehr genial!
    Werde ich in meiner Abschlussarbeit zitieren!
    Dankeschön!

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